Shiori Harms' Leben mit Prothese

Ich bin Shiori – und ich tanze

Ihr Gesicht ist entspannt, der Blick aus den dunklen Augen gerade und klar. Die langen braunen Haare wehen im Wind. Parker und Schal schützen sie an diesem neblig trüben Tag vor der Kälte. Shiori trägt Kopfhörer und hört Musik – wie immer, wenn sie unterwegs ist. Am liebsten hört sie Contemporary, Jazz oder Pop. Auch Klassik mag sie sehr. „Bei mir läuft immer Musik“, sagt sie. „Sie macht alles so fröhlich.“ Und sie liebt es, zu tanzen – sei es alleine zu Hause, mit Freunden in der Disco oder im Rampenlicht auf der Bühne. „Tanzen ist ein großer Teil meines Lebens.“

Shiori lebt in Mainz und studiert Jura. Vorlesungen und Arbeitsgemeinschaften, Pauken und Prüfungen gehören zu ihrem Alltag. Gerade erst hat sie Klausuren geschrieben. Das Tanzen entspannt sie – es hilft ihr, Gefühle zu verarbeiten. Shiori hat etwas verstanden, womit sich manch anderer selbst im höheren Alter schwer tut. „Es gibt Dinge im Leben, die man nicht entscheiden kann. Aber ich kann immer wählen, frei zu sein.“ Freiheit ist Shiori enorm wichtig und es ist vor allem das Tanzen, das ihr das Gefühl von Freiheit verleiht.

“Ich fühle mich total frei, wenn ich tanze!”

1999 in Deutschland geboren, wächst Shiori in einem musikalischen Haushalt auf. Die Mutter Pianistin, der Vater spielt Klavier und Saxophon. „Auch bei uns zu Hause lief immer Musik. Seit ich denken kann, habe ich dazu getanzt.“ Die Grundlagen des klassischen Tanzens lernt Shiori mit fünf beim Ballett. Schritt für Schritt perfektioniert sie dabei Technik und Ausdruck, Haltung und Hingabe, Konzentration und Körpergefühl. Mit vierzehn kommt der Jazz Dance dazu.

Wenn Shiori tanzt, ist sie ganz bei sich. Doch sich selbst so zu akzeptieren, wie sie ist, musste sie erst lernen. Man ahnt, dass dies kein einfacher Weg war. Shiori ist mit einer seltenen Fehlbildung auf die Welt gekommen: Dysmelie. Ihr fehlt der linke Unterarm. „Früher hatte ich zum Beispiel oft das Gefühl mitleidig angeschaut zu werden, wodurch mein Selbstbewusstsein gelitten hat. Deswegen habe ich meist meinen linken Arm versteckt.“

“Ich habe beim Tanzen gelernt, meinem Körper zu vertrauen.”

Wenngleich sie sich auch heute noch ab und an beim unbewussten Verstecken des Arms ertappt, hat sich Shiori weitgehend von negativen Gedanken und der Orientierung an der Meinung anderer befreit. „Ich bin wie ich bin und dankbar für das, was ich habe“, sagt sie optimistisch. „Das Tanzen hat mir dabei geholfen. Wenn ich beim Ballett auf der Bühne im Rampenlicht stehe, kann ich nichts verstecken. Hier bin ich fokussiert und kann nicht darüber nachdenken, was andere über mich denken. Ich habe beim Tanzen gelernt, meinem Körper zu vertrauen. Das hat mich befreit.“

Beim Ballett lässt Shiori ihre Prothese meist in der Garderobe – sie ist gewohnt, ohne sie zu tanzen. Das ändert sich erst mit einer Tanzperformance der Kölner DIN A13 Tanzcompany, zu der die damals 18-Jährige von den Choreografinnen Gerda König und Gitta Roser eingeladen wurde. Das Ensemble der Company setzt sich aus Tänzerinnen und Tänzern mit unterschiedlichen Körperlichkeiten zusammen.

Bei der Performance „Technolimits“ steht für Shiori erstmals beim Tanzen die Prothese im Mittelpunkt. „Wir waren drei Profitänzer und drei Amateurtänzer mit Prothesen. Letztlich ging es um die Möglichkeiten und Gefahren, welche die neuen bionischen Prothesen bieten.“ Sie erzählt, wie sie und die anderen TänzerInnen bei den Proben zuerst die unterschiedlichen Bewegungsqualitäten erforscht und über die tänzerische Darstellung von Emotionen dann gemeinsam die Story entwickelt haben. Die Übersetzung von Emotionen in Bewegung ist genau das, was Shiori am Tanz fasziniert. „Das war total spannend, denn bis dahin kannte ich nur vorgegebene Geschichten und Choreografien, die ich einstudiert und getanzt habe.“

“Ich habe meinen Weg gefunden.”

Shiori liebt das Gefühl, wenn alle an einer gemeinsamen Sache arbeiten. Dafür nimmt sie zwei Monate die lange Anreise zu den ganztägigen Proben gerne in Kauf. „Teil des Ganzen zu sein, gibt mir ein starkes Gefühl. Es gibt mir Kraft und so viel Freude.“ Nach der Aufführung ist sie begeistert über die Reaktionen aus dem Publikum. „Die Leute haben eher mit Bewunderung auf die Prothese reagiert, nicht mit Mitleid. Das war das Größte, was ich empfunden habe.“ Nicht tanzen zu können, kann sich Shiori gar nicht mehr vorstellen. „Ich wüsste gar nicht, wohin mit der Energie, die in mir steckt. Ich habe meinen Weg gefunden.“ Und dann lacht sie – und es ist ein ziemlich befreites Lachen.

Life without Limitations, bedeutet für mich, als ganzer Mensch wahrgenommen zu werden.

Shiori fehlt von Geburt an der linke Unterarm. Dysmelie, so heißt diese Fehlbildung. Die erste Prothese erhielt sie mit vier Jahren, doch da diese sie störte, ließ Shiori sie meist lieber zu Hause. Mit dem Führerschein kam der Wunsch nach einer neuen Prothese. Seitdem trägt sie die i-Limb Quantum – eine bionische Handprothese. Deren Finger werden über sechs Elektromotoren angesteuert und lassen sich so einzeln bewegen. Drucksensoren in den Kuppen registrieren Widerstände und ermöglichen so fast ein natürliches Greifen. Über einen Bluetooth-Chip und eine App lassen sich verschiedene Griffe konfigurieren und an die persönlichen Bedürfnisse anpassen. Seit Shiori die Prothese trägt, ist ihr linker Oberarm deutlich kräftiger geworden, da die Armmuskulatur nun intensiv genutzt wird.